
Wenn wir sehen, wie andere Menschen gähnen, steigt unsere Fähigkeit, gefährliche Insekten wie Spinnen und Kakerlaken schnell zu bemerken, deutlich an. Dies ist mehr als nur eine kuriose Beobachtung: Forschende gehen davon aus, dass es sich um einen alten Mechanismus der Gruppenwachsamkeit handelt, der das Überleben in potenziell gefährlichen Umgebungen unterstützt hat.
Was genau haben die Forschenden herausgefunden?
- Autor:innen der Studie: Andrew C. Gallup und Sabina M. Wozny. Der Artikel „Seeing Others Yawn Enhances the Detection of Spiders and Cockroaches“ (2024) wurde in der Fachzeitschrift Evolutionary Behavioral Sciences veröffentlicht.
- Methode: Den Teilnehmenden wurden Videos gezeigt, in denen Menschen gähnten, sowie Kontrollvideos ohne Gähnen. Danach führten sie eine visuelle Suchaufgabe mit Bildern von Spinnen und Kakerlaken zwischen Ablenkungsreizen durch. Dabei kam Eye-Tracking-Technologie zum Einsatz.
- Ergebnisse: Nach dem Betrachten gähnender Gesichter entdeckten die Teilnehmenden sowohl Spinnen als auch Kakerlaken schneller; sie fixierten weniger Ablenkungsobjekte; insgesamt stiegen Geschwindigkeit und Genauigkeit bei bedrohungsrelevanten Aufgaben. Spinnen wurden schneller erkannt als Kakerlaken, da sie traditionell als stärker furchtauslösend gelten.
Evolutionspsychologische Deutungen und die Hypothese der Gruppenwachsamkeit
Die Forschenden schlagen vor, dass Gähnen nicht nur eine physiologische Funktion erfüllt (z. B. Regulierung der Wachheit, Übergänge zwischen Müdigkeit und Ruhe), sondern auch eine soziale Signalwirkung hat. Nach der Hypothese der Gruppenwachsamkeit signalisiert ein Mensch, der in einer Gruppe Anzeichen verminderter Aufmerksamkeit zeigt – etwa durch Gähnen –, den anderen, dass sie wachsamer sein sollten, um die potenzielle Verwundbarkeit auszugleichen.
Ähnliche Effekte wurden auch in weiteren Studien derselben Forschungsgruppe beobachtet: Nach dem Betrachten gähnender Videos erkannten Teilnehmende beispielsweise Schlangenbilder schneller, nicht jedoch neutrale Tiere wie Frösche.
Warum gerade Spinnen und Kakerlaken?
Spinnen gelten in der psychologischen Forschung oft als evolutionär bedeutsame Bedrohung: Viele Arten sind gefährlich, und Angst vor ihnen ist weit verbreitet. Kakerlaken sind weniger gefährlich im Hinblick auf Gift, werden jedoch ebenfalls mit Risiken wie Krankheiten, Ekel und Verunreinigung assoziiert. Die Studie zeigt, dass der Gähneffekt nicht nur auf „klassische“ Raubtiere beschränkt ist, sondern sich auch auf ein breiteres Spektrum potenziell unangenehmer Reize erstreckt.
Praktische Bedeutung und Vorsicht bei der Interpretation
Für die breite Öffentlichkeit sind die Ergebnisse aus mehreren Gründen interessant:
- Sie zeigen, wie unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf offensichtliche Bedrohungen, sondern auch auf subtile soziale Signale von verminderter Wachsamkeit reagiert;
- mögliche Anwendungen im Umweltdesign (z. B. Sicherheit, Archäologie, Bildung), wo Aufmerksamkeit und schnelle Bedrohungserkennung wichtig sind;
- Relevanz in Psychotherapie oder Angstforschung – da Menschen mit erhöhter Bedrohungssensibilität möglicherweise anders auf solche Signale reagieren.
Es ist jedoch wichtig zu beachten:
- Die Stichprobengröße der Studie war relativ klein (etwa 30 Teilnehmende), was weitere Replikationen erforderlich macht;
- Laborbedingungen (Videos, Bilder) sind im Vergleich zur realen Welt stark vereinfacht;
- Empfindlichkeit gegenüber Gähnen und Bedrohung kann je nach persönlicher Erfahrung, kulturellem Hintergrund, Phobien und anderen Faktoren variieren.
Fazit
Die neue Studie bestätigt, dass das Gähnen anderer nicht nur ein zufälliges Verhalten ist, sondern ein potenziell wichtiger evolutionspsychologischer Mechanismus zur Steigerung der Gruppenwachsamkeit. Indem wir andere gähnen sehen, stellen wir uns auf eine erhöhte Aufmerksamkeit ein und reagieren schneller auf mögliche Gefahren – selbst wenn diese in Form von Bildern von Spinnen oder Kakerlaken auftreten.
Dies unterstreicht auch, dass unsere scheinbar „kleinen“ sozialen Reaktionen – wie Gähnen – eine tiefgreifende Bedeutung für die Wahrnehmung der Welt und das Überleben haben können.
Disclaimer: Dieser Artikel dient ausschließlich Informationszwecken und stellt keine medizinische oder psychologische Beratung dar. Menschen, die unter starker Angst vor Spinnen, Kakerlaken oder anderen Objekten (Phobien) leiden, sollten sich bei Bedarf an eine qualifizierte Fachperson wenden.
Quellen:
- Gallup, A. C., & Wozny, S. M. (2024). Seeing Others Yawn Enhances the Detection of Spiders and Cockroaches. Evolutionary Behavioral Sciences. DOI:10.1037/ebs0000358
- Gallup, A. C., & Meyers, K. (2021). Seeing others yawn selectively enhances vigilance: an eye-tracking study of snake detection. Animal Cognition.
- Gallup, A. C., & Wozny, S. M. (2023). Seeing Other People Yawn Selectively Enhances Vigilance: Conceptual Replication with Lions and Impala. Evolutionary Behavioral Sciences. DOI:10.1037/ebs0000337